Die Schrecken des Felsens und der Finsternis – so war Tag 4

So viel Landschaft war selten wie auf dieser vierten und mit 583 Kilometern längsten Etappe von Aix-les-Bains nach Cannes-Mandelieu, wenn man denn nicht alle Hände voll zu tun gehabt hätte. Denn an diesem Freitag gab es auch eine Menge Wetter.

Es ist gegen neun. Die Ersten sind seit sieben unterwegs, aber es ist immer noch dunkel. Das ist nicht die einzige Anomalie dieses Tages. Die frische Bergluft über Aix-les-Bains hat den Aggregatzustand gewechselt, sie ist seit halb sieben irgendwie flüssig. Eigentlich dachten die 67 aufgebrochenen Teams, als sie am Donnerstag schlafen gingen, sie wären in Sachen Wetter aus dem Gröbsten raus. Für die Startnummer zwei hat der lokale Weltuntergang auch sein Gutes: Sämtliche Spuren von Kuhmist vom Prolog am ersten Tag der Tour sollten aus dem offenen Riley rausgespült sein.

Mag sein, dass der Regen gegen elf nachlässt, aber die Wolken sind noch da. Ein paar davon lungern am Col de la Machine und verhüllen das landschaftlich größte Speltakel der Rallye. Am Combe Laval stürzt die Welt hinter der Begrenzungsmauer bis zu 600 Meter ab. Aber wer die Hand vor Augen nicht sieht, hat keine Vorstellung vom Abgrund neben sich, der gleichzeitig Ausblicke bietet, als hätte jemand eine Straße in die Eiger-Nordwand gemeißelt. Am meisten leidet Fotograf Arturo. Wie sollen in dieser Waschküche schöne Bilder entstehen. Man muss in allem das Gute sehen: Arturo steht ohne jede weiche Knie an der Steinmauer. Er hat eigentlich Höhenangst. Immerhin: In Sachen Abgrund, einspurige Straße und handgehauene Tunnel hat der Tross schon vorher an den Gorges du Nan eine erste Dosis abgekommen. Da hat es genieselt, aber wenigstens gab es was zu Gucken.

Ein kurzes Stück später am Pas du Pré Coque wähnt der Vorauswagen das Feld noch in Sicherheit. Eine halbe Stunde hinter ihm schneit es derart los, dass keiner den Beinahmen Winter-Rallye für ein rhetorisches Deckmäntelchen einer Schönwetter-Ausfahrt halten kann. 1982 war das große Duell des Opel Ascona 400 gegen die Quattros. Dank Röhrl und Tauwetter obsiegte der Opel. 40 Jahre später kennt die Neuauflage nur Verlierer. Kai Klauder rutscht im Röhrlschen Trainingsauto schon am Ende der ersten langgezogenen Links in den Graben und onduliert die Front des Blitzgerätes.

Walter Münch und Thomas Roth haben im Audi Quattro A2 in der vollen 1984er HB-Kriegsbemalung schon am Vortag einen heiklen Moment hinter sich gebracht, als nach drei Kilometern am Corniche de Goumois der linke Vorderreifen an einem Stein zerschellte, die Insassen aber unverdrossen den Schnitt haltend bis zum Ziel der Prüfung polterten. Heute knallt es wieder vorn links, aber ein Stück vor dem Vorderrad. „Bergab ein bisschen zu schnell“, sagt Beifahrer Roth. Der Allrader mit seinem starren Durchtrieb bohrte sich stur geradeaus ins Grobe. Der Querlenker ist krumm und die Nummer 48 raus.

Bis der AvD-Pannendienst eintrifft. Nach der Getriebepanne beim AvD-Abschleppwagen am Vortag erweist sich das durch einen Gewaltmarsch aus der Heimat nachgeorderte Ersatzfahrzeug als äußerst wertvoll. Mit Bändern, Winden, Klauen und Zähnen wird der Stahl wieder gerade gezogen. Der dem 84er Monte-Sieger nachempfundene Quattro trifft am Abend zwar nicht mit voller Kriegsbeleuchtung, aber allen vier Rädern im Ziel in Cannes ein. Gegen die Dramen im Schneetreiben wirkt der kaputte Auspuff bei Wulf Fischer-Knuppertz und Hans-Gert Schweigert fast niedlich. Der Fulvia mit der Startnummer 19 wird ebenso wieder flott wie der BMW von Star-Kabarettist Urban Priol und Beifahrer Fabian Seydel, der Pannendienst naht zügig. Weil der Vergaser nicht will wie Peter Schreyögg und Gerhard Epple. Die zwei streichen die Segel und fahren.

Sie verpassen die zwei Highlights des Tages: Längst lugt der Lorenz über die Landstraßen, als sich die Reisegruppe in der warmen Abendsonne den Weg hinunter nach Sigale und Aiglun bahnt. Hier hat der Fluss Esteron eine schartige Kerbe in den Berg gefräst, der Frankreichs verrückteste Straßenbauer eine steinerne Brücke entgegensetzten, die auf beiden Seiten im senkrechten Fels enden würde, hätten die Mineure nicht Tunnel durch die Granitwände getrieben. Schlangenartig windet sich davor das einspurige Sträßchen unter überhängendem Gestein Richtung Brücke. Oben im 400-Seelen-Dörfchen Aiglun, das der unter Rallye-Freunden legendären Schlucht den Namen gab, brennt in den Fenstern kein einziges Licht, sind viele Blendläden verrammelt, die einzige Auberge um Umkreis von 30 Metern hat geschlossen. Nur zwei klagende Katzen stromern unter dem Torbogen in der engen Ortsmitte umher und jammern nach Liebe – und vielleicht auch nach Dosen-Thunfisch.

Es wird schnell duster in diesem Teil der Welt, und nach all den Schrecken des Regens, Nebels und Eises, fürchten die Teilnehmer die hereinbrechende Finsternis. Wie sonst ist zu erklären, dass sich auffällig viele Grüppchen gebildet haben, die sich als Halogen-Polonaise im Konvoi durch das steinerne Nadelöhr tasten. Ihre Tapferkeit wird belohnt werden. Als Überraschung wartet eine echte Lichtgestalt im hübschen Cabris auf die 66 verbliebenen Autos. Walter Röhrl kam bei seiner Anreise ins Hotel besser durch als erwartet und damit den Teilnehmern ein Stück entgegen. Lange Tage und finstere Nächte kennt Röhrl in den Seealpen zur Genüge, aber da zieht selbst der viermalige Monte-Sieger schmunzelnd den Hut: „Die sahen aber alle ganz schön fertig aus.“

Zum Gesamtklassement: Der Tagessieg und damit auch die Gesamtwertung gehören am vierten Tag dem Duo Jörg Pöhlemann und Marc Stoll im Porsche 924 von 1976. Dahinter lauert noch immer Skoda-Pilot Jens Herkommer. Der hat mit seiner neunten Teilnahme viel Erfahrung und trotz zwei verpassten Kontrollen ist sein Abstand zum Führenden minimal und der Skoda 120 L läuft ohne das geringste Problem. Auf Rang 3 schiebt sich Peter Kochenrath mit Beifahrer Jörg Ramme im Audi GT5E von 1984.

Text: Markus Stier
Fotos: Lena Willgalis, Arturo Rivas, Andreas Beyer

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